Im Heute glauben – Theologie in einer neuen Zeit / Teil 3
Heute möchte ich aus dem „Credo – Für Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts“, einem Publik-Forum Dossier des Theologen Hans Küng, zusammengefasst von Jean-Louis Gindt, dem bekannten Religionspädagogen am Athenäum in Luxemburg, wieder einige ausgewählte Passagen vorstellen, mittels derer die Gegenwartstheologie – für den heutigen Leser verständlich – lesbar wird.
Dabei soll das Credo des christlichen Glaubensbekenntnisses die Grundlage bieten, und zwar in Bezug auf die folgenden auf Christus bezogenen Aussagen:
Ich glaube an Gott (…)
und an Jesus Christus,
seinen eingeborenen Sohn,
unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
(…)
Unser erster Blick soll der Frage gelten, inwiefern der Satz „Ich glaube an Jesus Christus, Gottes (eingeborenen) Sohn.“? theologisch zu verstehen ist. Bereits die erste Christusgemeinde war davon überzeugt: Dieser Christus ist nicht ins Nichts gefallen, sondern er ist aus der vergänglichen Wirklichkeit in das wahre, ewige Leben Gottes eingegangen.
Soweit wir heute wissen, hat Jesus sich nie Gott genannt. Erst nach seinem Tod und nach bestimmten Erfahrungen hat die glaubende Gemeinde angefangen, den Titel „Sohn“ oder „Sohn Gottes“ für Jesus zu gebrauchen. Diese Glaubensaussage ist wohl begründet:
- Jesus lebte aus einer innigen Gottesverbundenheit. Er lehrte Gott als den Vater aller anzusehen („Vater unser“) und hat Gott selbst Vater genannt („Abba, lieber Vater“).
- Aus der jüdischen Messias Erwartung heraus und aufgrund der Thronbesteigungspsalmen, nach welchen der König im Moment der Thronbesteigung zum „Sohn Gottes“ eingesetzt wurde, war es damals leicht, den vom Tod erweckten Gekreuzigten als „Sohn Gottes“ zu verstehen. Der Auferstandene ist nun bei Gott. „Er sitzt zur Rechten des Vaters.“
Das Glaubenssymbol „Sohn Gottes“ meint demnach nicht eine physische Gottessohnschaft, wie in den hellenistischen Mythen und wie von Juden und Muslimen bis heute oft angenommen und zu Recht verworfen. Gemeint ist eine Erwählung und Bevollmächtigung Jesu durch Gott. Dies im Sinne der Hebräischen Bibel, wo bisweilen auch das Volk Israel kollektiv „Sohn Gottes“ genannt wird.
Was nun ist der Sinn der „Inkarnation“ (= Menschwerdung eines göttlichen Wesens) Jesu? In diesem historischen Menschen Jesus von Nazareth haben Gottes Wort, Wille, Liebe menschliche Gestalt angenommen. In all seinem Reden, Verkündigen und Verhalten, in seiner ganzen Person hat der Mensch Jesus des einen Gottes Wort und Willen verkündet, manifestiert, geoffenbart. So ist er in menschlicher Gestalt Gottes Wort, Bild, Sohn.
Steht Christus inmitten der maßgebenden religiösen Gestalten der Menschheit in der damaligen Zeit (Buddha, Konfuzius, Mose oder Muhammad), so ist er doch als der Leidende schlechthin radikal anders. Welche Monstrosität, ja, Absurdität mutet die christliche Botschaft der Welt zu: das Marterkreuz als Lebens‑, Heils- und Siegeszeichen!
Kreuzesnachfolge meint nicht: akzeptierte Unmündigkeit, kultische Anbetung, Selbstfindung durch Bewusstmachung des Unbewussten oder wortwörtliche ethische Nachahmung des Lebensweges Jesu. Kreuzesnachfolge meint schlicht – nach der Wegweisung Jesu –, das eigene Lebenskreuz auf sich nehmen, das „die Annahme seiner selbst“ (Romano Guardini) und seines „Schattens“ (C.G. Jung) mit einschließt.
Jesus war kein Mann des jüdischen Establishments, er war weder Priester noch Theologe, er war ein (sogenannter) „Laie“. Die Evangelien zeigen uns einen klarsichtigen, entschlossenen, unbeugsamen und streitbaren, in jedem Fall aber furchtlosen Jesus. Aber er war kein Prediger von Gewalt. Er sagte nein zu einer zionistisch-messianischen Revolution, nein zu Steuerboykott und Klassenkampf, nein zu nationalem Befreiungskrieg und Aufhebung des Gesetzes.
Vielmehr hatte er Mut zu prophetischer Provokation, wie die Szene der Tempelreinigung es verdeutlicht. Seine Botschaft zielt auf einen Verzicht von Gewalt. In seiner praktizierten Güte war Jesus aber revolutionärer als die Revolutionäre: Heilen und Trösten! Bedingungslose Vergebung! Bereitschaft zum Leiden! Seligpreisung der Friedfertigen! Liebe zu den Feinden!
Jesus hat nicht sich selbst, sondern das Reich Gottes verkündet: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe!“
(Mt 6,10). Niemals hat Jesus sich selbst den Messias-Titel oder sonst einen messianischen Titel beigelegt (außer vielleicht den vieldeutigen Namen „Menschensohn“). Die große Frage nach dem Geheimnis seiner Person bleibt bis heute: Wer mag er in Wirklichkeit gewesen sein?
Dieses Rätsel ist angesichts seines gewaltsamen Todes in besonderer Weise gestellt. Der Jude Jesus hat nirgendwo seinen besonderen Anspruch begründet, hat aber aus einer für einen Propheten ungewöhnlichen Gotteserfahrung Gottesverbundenheit geredet und gelebt. Seine darin begründete freiere Einstellung zu Tempel und Gesetz (Reinheits‑, Fasten‑, Sabbatvorschriften) hatte eine tödliche Konfrontation zur Folge.
Christliche Theologen haben nach dem Zweiten Weltkrieg unter Berufung auf ein Wort von Dietrich Bonhoeffer nicht selten die Kreuzesproblematik durch die Annahme eines „leidenden Gottes“ bewältigen wollen. Demnach sei Gott „ohnmächtig und schwach in der Welt“, und gerade so und nur so sei er bei uns und helfe uns; nur der „leidende Gott“ könnte helfen.
Ein Blick in die Schrift vermag spekulative Kühnheit („leidender und gekreuzigter Gott“ oder gar der „Tod Gottes“) ernüchtern. Nach dem Alten Testament schreien die Menschen immer wieder zu Gott im Vertrauen darauf, dass Gott ihr Rufen und Flehen hört, aber ihr Schreien, Leiden und Sterben wird nicht einfach zum Schreien, Leiden und Sterben Gottes. Auch nach dem Neuen Testament schreit Jesus zu Gott, seinem Vater, weil er sich von Gott in der Tiefe seines Leidens verlassen glaubt. Aber nirgendwo schreit Gott zu Gott.
Die Botschaft, das Wort vom Kreuz, ist Paulus zufolge nur für die Nichtglaubenden Schwäche und Torheit, für die Glaubenden aber ist es Gottes Kraft, Gottes Weisheit. Ein Paradox, aber kein Widerspruch: Das Kreuz ist nicht das Symbol des „leidenden“, „schreienden“ Gottes, sondern das Symbol des Todesnot leidenden Menschen. Nicht Gott selbst, der Vater, ist gestorben, sondern Gottes Messias, Christus, Sohn. Das Kreuz für sich betrachtet ist ein klares Fiasko: eine beispiellose Mensch- und Gottesverlassenheit des Gottgesandten. Nur im Licht der Auferweckung Jesu zum Leben kann im Nachhinein in Gottes offenkundiger Abwesenheit seine verborgene und mitleidende Anwesenheit glaubend angenommen werden. Die Auferweckung geschieht durch Gott selbst, der ein Gott der Lebendigen und nicht ein Gott der Toten ist.
Wenn ich nun langsam zum Ende komme, ist es mir ein Anliegen, noch einmal kurz einen Blick zu werfen auf die letzten Stunden Jesu vor seiner Hinrichtung am Kreuz und das Verhältnis zu Gott, den er Vater nennt.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, ein Zitat von Johannes Röser aus dessen Buch „Auf der Spur des unbekannten Gottes, Christsein in moderner Welt“ in Erinnerung zu rufen: „Es kann im Glaubensringen eigentlich nur darum gehen: Gott Gott sein zu lassen. Sich Gott nähern in der Einsamkeit der eigenen Existenz, in der Ergriffenheit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, in der Erschütterung von Sterblichkeit und Ewigkeit (…).“
Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einen weiteren Gedanken anzuführen, nämlich im Blick auf die letzten Stunden Jesu angesichts seiner Hinrichtung am Kreuz. Er, der in seinem Leben eine besondere Gottesbeziehung hatte, so dass er ihn „Vater“ nannte, „Abba, lieber Vater“, etwa im Sinne von unserem „Papa“. Ein Wort also, das eine innige Vater-Sohn-Beziehung zum Ausdruck bringt und eine besondere Nähe. Dieser Jesus, der Gott, seinen „Vater“ liebte, und den Gott, sein „Vater“, liebte, bleibt von dem schrecklichen Tod am Kreuz nicht verschont. Und so schreit er in der letzten Stunde vor seinem Tod mit lauter Stimme:
„Eli, Eli, lema sabachtani?“, das heißt:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“ (…)
Dieser Notschrei Jesu ist ein Zitat aus Psalm 22 und oft deuten Theologen diesen Ruf Jesu als ein Gebet aus diesem Psalm. Eine durchaus mögliche Deutung. Aber: Handelt es sich vielleicht nicht doch um einen natürlichen Angstschrei eines Menschen, der den Tod vor Augen hat und in seiner großen Not nach dem göttlichen Vater ruft? Wie wird ein solcher Mensch in seiner Todesstunde mit seinem Gott fertig, dem er stets vertraut hat? Der nun aber schweigt? Von dem er sich in dieser Stunde einfach verlassen fühlt? „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? (…)“
Ist es nicht menschlich, wenn Jesu Angst vor dem baldigen Tod einfach größer ist als das innige Beten des 22. Psalms? Ist das nicht auch menschlich denkbar?
Ein weiteres wird an dieser Stelle klar sichtbar: Jesus ist nicht Gott. Er ist Gottes „Sohn“. Aber er muss sterben wie jeder Mensch. Und Gott stirbt nicht. Aus diesem Grund ist die Rede von der „Auferweckung Jesu“ korrekter als wenn wir von der „Auferstehung Jesu“ sprechen. Jesus aufersteht nicht aus eigenen Kräften, der göttliche Vater erweckt ihn von den Toten.
In den Zehn Geboten (Ex 20.4) heißt es: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben (…)“, sagt die Heilige Schrift. Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen. Er wird uns Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Es ist sinnlos, sich von ihm ein Bild zu machen, denn kein Bild wird ihm gerecht und jedes Bild, das wir in unserer Vorstellung vom Schöpfergott produzieren, führt uns in die Irre, denn Gott ist unserer Menschennatur unähnlich, unvergleichbar und allen erschaffenen Wesen fremd. So stimme ich Johannes Röser zu: „Es kann im Glaubensringen nur darum gehen, Gott Gott sein zu lassen.“
Wenn wir Christus den „Sohn Gottes“ nennen, dann meinen wir natürlich nicht etwa eine biologische Sohnschaft. In der Person Jesu kommt uns aber der unbegreifliche Gott ganz nahe, so nahe, dass wir seine Nähe spüren, die in Jesus und durch Jesus selbst gegenwärtig ist. Deswegen sagen wir mit Recht: Gott ist in Jesus mit uns, ja, er hat ihn offensichtlich als „seinen Sohn“ angenommen.
Wie kann man das verstehen? Wie erklärt sich die Nähe des unbegreiflichen Gottes zu einem jüdischen Jungen aus Nazareth, der ihn später einmal „Vater“, „Abba“ nennen wird? Es hat den Anschein, dass Jesus, der Sohn der Maria und des Josef, schon früh eine religiöse Erziehung seitens seiner Eltern erfahren hat. Neutestamentliche Passagen (vgl. etwa Lk 2,41–52) deuten dies an. So kann man sagen: Jesus ist gleichermaßen von Kind an mit Gott groß geworden. Er hat Gott früh lieben und ihm zu dienen gelernt, so dass es nahe liegt, dass man ihn in den frühen christlichen Gemeinden bereits einen „Sohn Gottes“ nannte. Einen Titel, den Jesus jedoch nie für sich selbst beanspruchte.
Was eigentlich passiert in der Sterbestunde Jesu zwischen „Sohn und Vater“? Hat Jesus seinen Glauben, sein Vertrauen in den geliebten Vater verloren? Verliert er in dieser Stunde die feste und durch das ganze Leben gestärkte Hoffnung auf den väterlichen Beistand? Der Schmerz sitzt tief und mit ihm die Angst. Und die Einsamkeit. Verändern wir ein wenig die Anfangsworte des 22. Psalms. Sie könnten etwa auch so lauten: „Mein Vater, mein Vater, wo bist du in meinen Ängsten, in meiner Not?
Bist du denn nicht mehr der Liebende, von dem ich den Menschen stets erzählt habe? Hast du denn deinen Sohn vergessen?“
Was ist also in der Sterbestunde Jesu passiert zwischen ihm und Gott-Vater? Hat nicht Jesus sein ganzes Leben in den Dienst für den Vater gestellt? Hat er nicht die Besonderheit seines von Gott berufenen Lebens bis zum Ende – trotz seiner Ängsten und Klagen – durchgehalten in Treue und Liebe zu ihm, den er liebevoll „Abba“ nannte, geliebter Papa?
Liebe Leserin, lieber Leser, an diesem Verhältnis Jesu zu seinem Vater habe ich aufgrund seines konsequenten Lebensvollzugs bis zum Ende nie gezweifelt. Ich glaube fest daran, dass er tief in seiner Seele die Hoffnung und das Vertrauen zu Gott nie wirklich verloren hat. Die Vater-Sohn-Beziehung konnte zwischen beiden nicht verloren gehen, weil sie das Band der Liebe ein Leben lang unerschütterlich und unzerstörbar vereinte. Jesus liebte seinen göttlichen Vater und der Vater liebte ihn.
Die Liebe zwischen Jesus, dem „Sohn“ und Gott-Vater ist nie verloren gegangen. Und dieses Beispiel der Treue und des Vertrauens zueinander, hat Jesus auch im Leiden bis in den Tod nicht verloren. Der Glaube trägt und stärkt auch in der größten Not.
Stellen wir einmal die Frage: Was tut Gott nach dem Kreuzestod Jesu? Hat er seinen „Sohn“ etwa verlassen in der Todesstunde? Die Antwort ist ganz klar. Er hat Jesus nicht verlassen. Sondern: Er hat ihn auf seinem schweren Weg ans Kreuz, die Hinrichtungsstätte, begleitet.
Das mag sich im ersten Moment etwas seltsam anhören. Aber: Die Wege Gottes kennen wir nicht, sie sind oft nicht unsere menschlichen Wege. Es sind Seine Wege, die er mit uns geht. Wege, auf denen er uns leise und unbemerkt begleitet und die uns stets zum Heil führen.
Wolfgang Kitze, Diakon
Bild Dr. Paulus Decker by Pfarrbriefservice.de